Wir sind erschüttert über die jüngsten Entwicklungen in der deutschen und europäischen Politik zum Thema Migration und Asyl. Die vorgestellte GEAS-Reform in Europa und das “Rückführungsverbesserungsgesetz” in Deutschland bedeuten einen gravierenden Einschnitt in die Menschenrechte von Geflüchteten.
In diesem Artikel fassen wir die Inhalte der Reform zusammen und geben Tipps, wie du für ein solidarisches Europa einstehen kannst.
Die neue Reform im Überblick
Im September 2020 stellte die EU-Kommission den sogenannten “New Pact on Migration and Asylum” vor. Dieser sieht deutliche Verschärfungen im Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen vor. Basierend auf diesem Entwurf, einigten sich am 8. Juni 2023 die EU-Innenminister*innen auf eine Reform des “Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS), das die Mindeststandards für den Ablauf von Asylverfahren und den Umgang mit Asylsuchenden in der EU definiert. Die wichtigsten Punkte der Reform sind:
Schnellere Grenzverfahren
Ein zentraler Aspekt der GEAS-Reform sind die neuen Grenzverfahren, durch die EU-Mitgliedsstaaten Asylanträge an den europäischen Außengrenzen schneller bearbeiten können sollen. Die Reform sieht vor, dass Zufluchtsuchende aufgrund verschiedener Kriterien aussortiert werden. Hierbei spielt vor allem eine Rolle, aus welchem Land die Geflüchteten kommen und welche Länder sie auf ihrem Fluchtweg nach Europa durchquert haben. Menschen mit einer Staatsangehörigkeit, bei der die EU-weite durchschnittliche Anerkennungsquote des Herkunftslandes unter 20% liegt, kommen automatisch in das Grenzverfahren-System. Konkret heißt das, wer aus einem Land kommt, aus dem die EU durchschnittlich weniger als 20% aller Asylanträge zustimmt, hat schlechtere Karten.
Abschiebung in Drittstaaten
Die Route, über die Menschen nach Europa flüchten, ist ebenfalls ein entscheidender Faktor, der darüber bestimmt, ob sie hier letztendlich Asyl erhalten oder nicht. Die Reform führt die Möglichkeit ein, Asylsuchende in Drittstaaten abzuschieben, wenn sie bereits Schutz in einem sicheren Drittstaat erhalten können. Dieses Verfahren zielt darauf ab, diejenigen abzuweisen, die bereits Schutz und Sicherheit anderswo finden könnten. Diese Drittstaaten sind Länder außerhalb von Europa, die von einem EU-Land als “sicher” befunden werden und welche die Geflüchteten auf ihrem Weg nach Europa durchquert haben. Asylanträge von Schutzsuchenden, die über angeblich “sichere Drittstaaten” eingereist sind, sollen dann gar nicht mehr inhaltlich geprüft werden, sondern die Menschen werden sofort in den Drittstaat abgeschoben. Die Reform sieht starke Lockerungen in den Kriterien für sichere Drittstaaten vor.
Haftzentren an den Außengrenzen
Wer ein Grenzverfahren durchlaufen muss, soll nun in sogenannten Auffanglagern an der europäischen Grenze festgehalten werden. Dort müssen die Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind und in Europa Schutz suchen, bleiben, bis über ihre individuelle Aussicht auf Asyl entschieden wurde. Diese streng bewachten Lager sollen sich zwar auf europäischem Boden befinden, die Schutzsuchenden, die dort festgehalten werden, werden allerdings als noch nicht in die EU eingereist gelten, bis über ihren Asylstatus entschieden wurde. Einreisen darf eine geflüchtete Person erst, wenn ihr Asylantrag nach Befund der Behörden eine realistische Aussicht auf Anerkennung hat. Kommt die Person wie oben beschrieben z.B. aus einem Land, dessen Anerkennungsquote unter 20% liegt oder ist sie über ein “sicheres” Drittland nach Europa geflohen, wird sie an der Außengrenze abgewiesen und abgeschoben.
“Solidaritätsmechanismus”
Die Reform legt neue Verantwortungen für EU-Mitgliedsstaaten fest. Alle Länder sind dazu verpflichtet, entweder Geflüchtete bei sich aufzunehmen oder die Sicherung der europäischen Außengrenzen durch finanzielle Beiträge oder Personal zu unterstützen. Das heißt, EU-Länder sind weiterhin nicht verpflichtet, Geflüchtete bei sich aufzunehmen, sondern können ihre “Solidarität” auch zeigen, indem sie Beamt*innen entsenden, die dann an den Außengrenzen dabei helfen, Asylgesuche schnell zu prüfen und gegebenenfalls Geflüchtete abzuweisen.
Wie reagiert die deutsche Bundesregierung
Auch die Bundesregierung hat der GEAS-Reform zugestimmt. Bundeskanzler Scholz lobte die Einigung der EU-Staaten auf die neuen Regelungen. Außenministerin Baerbock sagte, die Einigung sei “seit Jahren überfällig, um zu verhindern, dass es wieder zu Zuständen an den EU-Außengrenzen wie in Moria kommt,” und Innenministerin Faeser feiert die Reform als “historischen Erfolg”. In einem Spiegel Interview vom 23. Oktober verkündete Scholz anschließend, dass er Abschiebungen “im großen Stil” plant. Er sagte, es sei wichtig, “dass wir die Kontrolle [über Migration nach Deutschland und die EU] behalten und sie nicht verlieren.” Das Ziel sei, die Außengrenzen der EU besser zu schützen, die Zahl der “irregulären” Einwanderer zu begrenzen und abgelehnte Asylbewerber effektiver abzuschieben. Das geplante “große Rückführungspaket” der Bundesregierung soll eine entscheidende Rolle im Schutz der Grenzen spielen.
Am 30. Oktober stimmte das Bundeskabinett für den von Faeser vorgeschlagenen Gesetzesentwurf, das sogenannte “Rückführungsverbesserungsgesetz.” Es sieht “schwerwiegende Verschärfungen” des Abschiebungsgesetzes vor. Zum Beispiel, dass Geflüchtete bis zu 28 Tage lang eingesperrt werden können. Dabei hat das Personal jederzeit, auch nachts freien Zugang zu den Zimmern der Menschen und darf beliebig die privaten Handys der Zufluchtsuchenden auslesen.
Wir kritisieren die Reform und die Reaktion der Bundesregierung!
Spätestens nach den Worten von Scholz wird klar, worauf die neue GEAS-Reform und das Rückführungspaket abzielt: Abschieben ist die Devise. Die Gesetzesänderungen dienen dazu, Europa weiter abzuschotten - Solidarität mit schutzsuchenden Geflüchteten ist fehl am Platz.
Das Festhalten von Schutzsuchenden in Lagern gegen ihren Willen und das Durchführen von Grenzverfahren unter Haftbedingungen, stellt einen “massiven Eingriff in die Grundrechte fliehender Menschen” und eine Gefährdung der Einhaltung von Menschenrechten in der EU dar. Moria hat uns gezeigt, welche katastrophalen Zustände in Flüchtlingslagern herrschen, und die GEAS-Reform und das politische Klima in Deutschland und Europa geben keinen Grund zur Annahme, dass die neuen Lager einen humanen Umgang für Schutzsuchende bedeuten. Im Gegenteil, als Reaktion auf Scholz’ Ankündigung zur Abschiebung im “großen Stil,” forderte CDU-Abgeordneter Spahn, dass Geflüchtete bereits an den EU-Grenzen mit “physischer Gewalt” an der Einreise gehindert werden sollen - ein Aufruf der noch vor ein paar Jahren aus den Reihen der AfD kam.
Wir sind entsetzt über die grund- und menschenrechtsverletztenden Aussagen, die aus der Politik kommen. Gewalt als Abschreckung ist bereits gängige Taktik an den EU-Außengrenzen und wie die Seenotrettungsinitiative Seebrücke richtig berichtet: “Die offenen Forderungen nach Gewalt normalisieren und legalisieren, was bisher noch mühsam als Abweichung von einer ansonsten angeblich ‘humanitären’ Grenzpolitik dargestellt wurde.” Die Reform sieht im Übrigen keine Ausnahmen im Umgang mit Kindern vor. Nur unbegleitete Minderjährige sollen von den Regeln ausgenommen sein. Doch Kinder, die zusammen mit ihrer Familie oder einem Erwachsenen geflüchtet sind, werden wie alle anderen in den Lagern inhaftiert und nach den neuen Kriterien abgeschoben.
Unter den Bedingungen von Gewalt in den Lagern, Traumata der Flucht und Freiheitsberaubung an den Außengrenzen werden faire Asylverfahren kaum möglich sein. Unter der neuen Reform können Geflüchtete bis zu vier Monate während des Grenzverfahrens an den Außengrenzen festgehalten werden. Bei Ablehnung der Schutzsuchenden kann sich ein bis zu 18-monatiges Abschiebungsverfahren, sowie eine eventuelle zusätzliche Abschiebungshaft anschließen. Das bedeutet, dass Menschen bis zu zwei Jahre an den EU-Außengrenzen inhaftiert sein könnten.
Der Fokus der Reform liegt auf der Beschleunigung von Prüfverfahren und der Abschiebung Asylsuchenden. Dies führt jedoch dazu, dass die neuen Regelungen eine Schwächung des Asylrechts mit sich bringen. Die Ablehnung von Asylanträgen aufgrund allgemeiner Kriterien, wie zum Beispiel der Anerkennungsquote des Herkunftslandes einer geflüchteten Person, untergräbt das individuelle Recht auf Asyl. Außerdem gelten Schutzsuchenden während des Grenzverfahrens als “nicht eingereist”, obwohl sie sich bereits in der EU befinden. Diese gesetzliche Grauzone könnte zu verstärkten Inhaftierungen der Menschen führen.
Auch das Abschieben von Geflüchteten in sogenannte “sichere Drittstaaten” entspricht keiner humanen Asylpolitik, die den Schutz von Menschen in den Vordergrund stellt. Die GEAS-Reform beinhaltet eine starke Lockerung der Kriterien, auf deren Basis Länder von der EU als “sicher” erklärt werden. So würde es unter der neuen Verordnung zum Beispiel ausreichen, wenn nur Teilgebiete eines Landes (und nicht das gesamte Land) als sicher erklärt würden. Dies gefährdet ganz klar die Sicherheit der geflüchteten Menschen. Erstens ignoriert diese Regelung die Tatsache, dass vulnerable Gruppen wie z.B. LGBTQIA+ auch in Nichtkriegsgebieten bedroht und verfolgt sein können. Zweitens besteht keine Garantie, dass der Drittstaat seinerseits die Geflüchteten nicht weiter abschiebt. Drittens bedeutet die Abschiebung in ein Land, zu dem die Person keine wirkliche Verbindung hat, eine zusätzliche starke psychische Belastung.
Außerdem lässt die Drittstaatenregelung viel Raum für Willkürlichkeit zu und vergrößert die Gefahr, dass Menschen, denen Schutz zusteht, diesen in Europa nicht erhalten. Eigentlich sollte die Reform den vorübergehenden Schutz in akuten Krisen unberührt lassen. Das bedeutet, Menschen, die zum Beispiel aufgrund von Krieg, wie im Fall der Ukraine, flüchten, sollten von den neuen Regeln nicht betroffen sein und weiterhin vorübergehenden Schutz in der EU erhalten. In der Realität könnte das allerdings deutlich anders aussehen. Zum Beispiel könnten Menschen, die aus Syrien oder Afghanistan nach Griechenland fliehen, aufgrund der Drittstaatenregelung abgewiesen werden, da sie über die Türkei in die EU gelangen würden und Griechenland die Türkei als “sicher” einstuft. Denn, wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird unabhängig von den eigentlichen Fluchtgründen abgelehnt.
Im politischen Diskurs werden die neuen Gesetzesvorschläge von Vielen als solidarische Einigung gefeiert. Kanzler Scholz stellt die Beschlüsse der Bundesregierung als notwendig zur Entlastung der Kommunen dar. Jedoch schreibt weder das “Rückführungsverbesserungsgesetz” noch die GEAS-Reform eine Umverteilung Geflüchteter auf nationaler oder internationaler Ebene vor. Die deutschen Gemeinden und EU-Grenzstaaten, die eine unverhältnismäßig große Aufnahme von Geflüchteten erfahren, werden durch diese neuen Regeln keineswegs entlastet. Hinzu kommt, dass EU-Länder weiterhin nicht verpflichtet sind, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. Mitgliedstaaten können ihre “Solidarität” auch durch die Finanzierung von “Abschottung und Flüchtlingsabwehr” ausdrücken. Statt Schutz und Sicherheit setzen die neuen Reformen auf Abschreckung und Abschiebung. Von Solidarität mit den Menschen, die am meisten betroffen sind, fehlt jede Spur.
Was können wir tun
Wir fordern eine humane Asylpolitik, die Menschenrechte wahrt und Solidarität mit Geflüchteten priorisiert. Wie Maria Sonnek von der Seebrücke richtig sagt: “Wir brauchen daher nicht Gesetze für Abschiebungen, sondern Verbesserungen für Integration.”
Appelliere an die Abgeordneten des EU-Parlaments und die Bundesregierung
Die Einigung der EU-Mitgliedstaaten bedeutet, dass die GEAS-Reform bald tatsächlich in Kraft treten könnte. Der letzte Schritt ist die Verhandlung zwischen EU-Kommission, EU-Rat und dem Europäischen Parlament, bei der sich die drei Institutionen auf eine gemeinsame Position einigen müssen.
Um die Reform an dieser Stelle noch zu stoppen, hat ProAsyl einen Appell an die Abgeordneten des EU-Parlaments verfasst. Hier kannst du ihn unterschreiben.
Kontaktiere auch die Bundesregierung und appelliere an sie, sich für eine solidarische Asylpolitik einzusetzen. Hierfür kannst du vor allem folgenden Politiker*innen schreiben:
Olaf Scholz - Bundeskanzler
Reem Alabali-Radovan - Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
Luise Amtsberg - Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe
Geh auf Demonstrationen (und nimm all deine Freund*innen mit)
Am 26. November findet in Berlin eine Demonstration von Seebrücke und Stopgeas gegen die GEAS-Reform statt. Geh hin und zeige der deutschen Regierung und dem Europäischen Parlament, dass du ein anderes Europa willst.
Sei aktiv und rede mit deinen Mitmenschen
Je mehr Menschen Druck auf die Politik ausüben und ihre Stimme offline und online erheben, desto weniger wird sie die Forderungen ignorieren können. Mach auf die aktuelle Lage aufmerksam, sprich mit den Menschen in deinem Umfeld und werdet gemeinsam aktiv . Gemeinsam sind wir laut und viele! Jede Stimme zählt! #WeAreOne
Comments